Das Hauptziel von Longevity-Bemühungen sollte stets sein, die Zeitspanne mit gesundheitlichen Einschränkungen so weit wie möglich zu verkürzen und in ein späteres Lebensalter zu verschieben.
Stell dir vor, dass du die Jahre, in denen Krankheiten dein Leben beeinträchtigen können, zusammenpresst und an das Ende deines Lebens verlagerst. Das Resultat wäre, dass du bis dahin ein gesünderes Leben voller Energie genießen kannst. Und dadurch in vielen Fällen ein längeres. Diese Theorie nennt man „Compression of morbidity“ – die Komprimierung der Krankheitsphasen, der morbiden Zeit im Leben. Die Theorie zur Komprimierung der Morbidität wurde vor mehr als 30 Jahren von James Fries festgehalten und mittlerweile vielfach bestätigt.
Bedeutet länger leben nicht automatisch, die kranken Jahre auszudehnen?
Dieses Missverständnis prägt die Einschätzung vieler Menschen beim ersten Kontakt mit Longevity. Wenn ich länger lebe, dann bin ich auch länger krank. Das kenne ich von Bekannten oder Freunden, und das möchte ich nicht. Diese Einstellung ist nachvollziehbar, vielen von uns geht es da ähnlich. Aber, mehr kranke Jahre zu haben, das muss nicht sein. Vielmehr kann es sein, aber nur, wenn du es falsch machst.
Längere Lebenserwartung durch Medizin
Man kann sogar sagen, im Kollektiv machen wir es heute falsch. Die Medizin legt den Fokus darauf, bestehende Erkrankungen mit Medikamenten zu behandeln, anstatt vorzubeugen. Gegen jede Krankheit gibt es spezifische Medikamente, die wir auch in Kombination einnehmen, so denn nötig. Eine Folge davon ist eine verlängerte Lebenserwartung im Vergleich zur Zeit vor 50 oder 100 Jahren, als die Medizin uns noch nicht erlaubte, mit chronischen Erkrankungen länger zu leben. Eine weitere Folge ist aber, dass die kranke Zeit ausgedehnt werden kann.
Aber nicht im gleichen Maße eine verlängerte Lebensqualität
Ein drastisches Beispiel hiervon ist eine durch medizinische Mittel erhaltene körperliche Gesundheit in Kombination mit schnell abbauender kognitiver Gesundheit. Der stand heute ist, dass wir keine Medikamente gegen neurodegenerative Erkrankungen haben. Die Folge: Mehr Menschen, die lange mit Demenz, wie Alzheimer, leben.
Perspektivwechsel: Was aber wäre, wenn wir die Ursache dieser Erkrankungen angehen, lange bevor sie ausbrechen? Lange bevor Medikamente notwendig werden? Alterung ist ein entscheidender Risikofaktor vieler altersbedingter, chronischer Erkrankungen und damit eine wichtige Ursache. Was wäre, wenn wir Alterung an sich in den Griff bekommen? Könnten wir dadurch nicht das Leben verlängern, als auch die Zeit ohne Krankheit?
Besser Altern und später krank werden als Teil von Longevity
Diese Fragen sind nicht rein rhetorischer Natur. Es gibt schon einige Antworten auf sie, die nebenbei die „compression of morbidity“-Theorie bestätigt haben. Unter anderem aus der Forschung mit Centenarians, also der Menschen, die mindestens das Lebensalter von 100 erreicht haben. Centenarians aus zwei Kohorten (Longevity Genes Project und New England Centenarian Study) schafften es, einschränkende Erkrankungen um bis zu 25 Jahre nach hinten zu verschieben.
Centenarians wehren Krankheiten länger ab als der Durchschnitt
Bei besonders langlebigen Menschen widmeten sich die Forscher der Frage: Ab wann traten chronische, altersbedingte Erkrankungen auf, wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose oder Diabetes? Die Forschung mit Centenarians zeigt: Sie blieben viele Jahre länger gesund, als Menschen, nicht in durchschnittlichem Alter starben. Sie wehrten die Krankheiten ab. Und damit lebten sie auch länger. Also schafften diese Menschen es, Erkrankungen vorzubeugen und damit nicht nur besser, sondern auch länger zu leben.
Oder um es mit den Worten von James Fries, einem Pionier der Altersforschung zu sagen: Sie dehnten Vitalität bis weit in die spätere Lebensspanne hinein aus und komprimierten damit die Zeit der Seneszenz am Lebensende.
Community-Projekt: Neun „Blue Zone“-Prinzipien für ein gesünderes Leben
Dan Buettner ist einer der bekanntesten Akteure im Bereich Longevity. Über viele Jahre bereiste er die Orte auf der Welt, in denen eine auffällig hohe Anzahl an Centenarians lebte, wie die griechische Insel Ikaria, Sardinien, Okinawa in Japan, Loma Linda in den USA oder Nicoya in Costa Rica. Zwar aßen nicht alle Menschen dieser Orte - der sogenannten blue zones - das gleiche, oder hatten gleiche Hobbies. Jedoch beschäftigte er sich lange genug mit diesen Menschen, um gewisse Gemeinsamkeiten herauszudestillieren. Diese fasste er in neun grundlegende Prinzipien zusammen.
Mittlerweile gibt es viele Projekte, die diese Prinzipien in das städtische Leben integrieren wollen. Mit dem Ziel, Krankheiten vorzubeugen und am Ende eines langen Lebens zu komprimieren. Oder gar bis über das Lebensende hinauszuzögern (wie in der 2.Grafik angedeutet). Eine dieser Projektstädte, Albert Lea in Minnesota, USA, konnte seit Beginn des Projekts mehrere Millionen Dollar an Kosten für das Gesundheitssystem einsparen. Augenscheinlich führen die Gewohnheiten der Centenarians und besonders gesunden Menschen nicht nur zu einem langen Leben, sondern auch zu einem gesünderen Leben mit mehr Lebensqualität.
Die Erblichkeit von Longevity ist niedrig – der Lebensstil ist ein wirkungsvolles Mittel
Centenarians sind genetisch oft gut ausgestattet. Dazu passt der immer wieder vorgetragene Einwand: Was denn, wenn das alles die Gene sind? Wenn ich an meinem Schicksal gar nichts ändern kann und es nicht selbst in der Hand habe, Krankheiten vorzubeugen?
Objektiv lässt sich dieser Einwand nicht ganz von der Hand weisen. Auch bei der Longevity haben Gene ein Wörtchen mitzureden. Mit Verwandten, die lange leben, hat man eine größere Wahrscheinlichkeit, auch länger zu leben. Allerdings, so schätzen frühe genomweite Assoziationsstudien, liegt die Erblichkeit bei circa 25 %. Neuere, detailliertere Betrachtungen gehen davon aus, dass die alten Werte überschätzt sein könnten und der vererbliche Anteil des langen Lebens eher bei 10 % liegt.
Wo genau der Wert auch liegen mag, so zeigt er doch: der Lebensstil hat einen Einfluss. Das muss nicht bei jedem Centenarian aus der gerade erwähnten Forschung der Fall sein, denn unter diesen gibt mit Sicherheit überproportional viele Menschen, die mit außergewöhlichem Erbgut ausgestattet waren. Entscheidend, um Erkrankungen vorzubeugen oder hinauszuzögern, sind jedoch Komponenten des Lebensstils, wie Bewegung in der Natur, Rauchen, eine Ernährung reich an Obst und Gemüse oder ein gutes soziales Netzwerk.
Das große Ziel von Longevity: Kranke Zeit nach hinten schieben und komprimieren
Eines der größten Longevity-Missverständnisse ist, dass es das Ende des Lebens nach hinten verschiebt und uns dadurch mehr Jahren mit Krankheit, Einschränkungen und Abhängigkeit zurücklässt. Das erscheint uns aus vielen Gründen nicht sehr attraktiv, verständlicherweise.
Wie Daten und Erfahrungen aus einigen Jahrzehnten Forschung zeigen, gibt es jedoch keinen Grund, die Abwägung „lange leben und länger krank sein“ oder „kürzer leben und dafür gesund sein“ treffen zu müssen. Vielmehr wehrt eine gesunde Lebensweise altersbedingte Krankheiten und Einschränkungen ab – und führt auf diese Weise erst zu einem Leben, das länger dauert.
Eben das, ein vitales Leben mit langer körperlicher und geistiger Funktionalität und hoher Lebensqualität sollte auch der Fokus von Longevity-Ansätzen sein. Wie die Genomforschung zeigt, haben wir die Beeinflussung der Alterung durch den Lebensstil zu großen Teilen selbst in der Hand.
Du hast die Möglichkeit, Longevity-Methoden zu nutzen, um deine gesunde Zeit im Leben auszudehnen und die kranke Zeit am Ende des Lebens zu komprimieren.
Oder wie es James Fries sagte:
„Wir können den kränklichen Teil des Lebens nicht unbegrenzt komprimieren. Aber das Paradigma eines langen, gesunden Lebens mit einem relativ raschen Abbau kurz vor Lebensende ist sicherlich ein erreichbares Ideal.“
Quellen
Fries, J.F. (2005). The Compression of Morbidity. Milbank Quarterly, 83(4), pp.801–823. doi:https://doi.org/10.1111/j.1468-0009.2005.00401.x.
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